«Selbstreproduzierender Kleinflugkörper»: Soldaten bestücken 1941 eine Brieftaube mit einer Fusshülse. (Bild: Schweizerisches Bundesarchiv)

«Selbstreproduzierender Kleinflugkörper»: Soldaten bestücken 1941 eine Brieftaube mit einer Fusshülse. (Bild: Schweizerisches Bundesarchiv)

Ausgegurrt – weshalb die Schweizer Armee ihre Brieftauben ausmusterte

Vor 25 Jahren schaffte das Schweizer Militär seine billigsten Arbeiter ab. Das Ende der gefiederten Kuriere sorgte für erboste Reaktionen, sogar eine Volksinitiative wurde lanciert. Ein Blick zurück.

Marc Tribelhorn
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Von einer Elitetruppe zu sprechen, wäre übertrieben. Aber die Brieftaube der Schweizer Armee, lateinisch Columba militaris helvetica, sei weltweit konkurrenzlos, schwärmen ihre Züchter noch in den 1990er Jahren: Robust, ausdauernd, genügsam und witterungsbeständig seien die geflügelten Boten. Mit 98-prozentiger Sicherheit und Geschwindigkeiten von bis zu 100 Kilometern pro Stunde finden sie laut Studien aus ihnen völlig unbekannten Gegenden wieder in ihre Schläge zurück. Sie sind erprobt im Gebirgs- wie im Nachtflug und werden sogar als Zweiwegkuriere trainiert. Günstig und umweltfreundlich sind sie obendrein, die «selbstreproduzierenden Kleinflugkörper auf biologischer Basis», wie die Brieftauben im Dienstreglement genannt werden.

Doch plötzlich soll Schluss sein mit dem Transport von militärischen Meldungen, Krokis und Mikrofilmen via Luftpost. Am 22. September 1994 teilt das Verteidigungsdepartement (damals EMD) mit, dass es 30 000 diensttaugliche Tauben auf Ende Jahr ausmustere. Im Rahmen des Reformprogramms «Armee 95» wird abgerüstet und ausgemistet, getreu dem neuen Motto «lean and mean», also «schlank und schlagfertig». Man sei nach einer Kosten-Nutzen-Analyse zu dem Schluss gekommen, «dass eine Weiterführung dieses kleinen, aber populären Dienstzweigs angesichts des Spardrucks nicht mehr zu verantworten» sei. Die militärische Bedeutung der Brieftauben schwinde schon lange, während die Aufwendungen für die elektronische Übermittlung stiegen. Kosteneinsparung pro Jahr: rund 600 000 Franken. Von der Abschaffung betroffen ist auch die zentrale Zuchtstation Sand-Schönbühl bei Bern. Die 266 im Vogelflug eingeteilten Milizsoldaten, unter ihnen viele Angehörige des freiwilligen Militärischen Frauendienstes, werden umgeschult.

Für den Guerilla- und Atomkrieg

Die Nachricht aus dem Departement von Verteidigungsminister Kaspar Villiger sorgt für unwirsche Reaktionen. Der 1917 mitten im Ersten Weltkrieg gegründete und 1951 den Übermittlungstruppen angegliederte Brieftaubendienst erfreut sich grosser Beliebtheit in der Bevölkerung. Entsprechend bricht ein «Sturm der Entrüstung» aus (so der «Blick»), vor allem in den Leserbriefspalten: «Muss man uns eigentlich alles wegnehmen, was uns bei der Armee noch Freude macht?»; «Diese lautlosen Soldaten dürfen unter keinen Umständen abgeschossen werden!»; «Gestern die Kavallerie, heute die Brieftauben, morgen der Train und die Radfahrertruppe. Schafft sich das EMD bald selber ab?». Im «Zischtigsclub» des Schweizer Fernsehens ist der «Taubenkrieg» ebenfalls Thema.

Sorgsame Verpackung im Einerkorb: Soldatin mit Brieftaube, 1956. (Bild: Jean-Pierre Grisel / RDB)

Sorgsame Verpackung im Einerkorb: Soldatin mit Brieftaube, 1956. (Bild: Jean-Pierre Grisel / RDB)

In den Debatten geht es nicht nur um ornithologische Sympathien, sondern auch um wehrpolitischen Nutzen. Experten melden sich zu Wort wie der Verhaltensforscher der Universität Zürich Hans-Peter Lipp, der als Milizmajor die «Tüübeler» befehligt. Die Brieftauben, die sich schon bei den alten Ägyptern bewährt haben, seien auch in der hochtechnisierten Armee nicht überflüssig, versichert er. Sie sind gegen Sabotage von Telefonleitungen, gegen Abhöreinrichtungen und Störung via Funkverbindungen gefeit. Anders als die hochentwickelten Übermittlungstechniken können die Vögel in ihren Fuss- oder Brusthülsen zudem Boden-, Gewebe- oder Blutproben transportieren. Brieftauben eignen sich besonders im Guerillakrieg, ihre eigentliche «Sternstunde» kommt laut einem TV-Beitrag der «Rundschau» aber bei einem Nuklearschlag, wenn alle modernen Kommunikationsmittel durch die elektromagnetische Strahlung lahmgelegt worden sind.

Kritisiert wird zudem das Vorgehen der «Verteidigungsbürokraten». Lange hiess es nämlich im EMD, der «zeitlos-moderne» Brieftaubendienst würde in der «Armee 95» erhalten bleiben. Im offiziellen Militärkalender für das Jahr 1995 findet sich sogar noch eine Foto des Vogels. Ohne Rücksprache mit Sachverständigen sei «meuchlings» die Abschaffung geschehen, und zwar unter fadenscheinigem Vorwand, monieren Gegner der Abbaupläne in den Medien. «Für den Gegenwert von 60 Schuss aus einer Panzerabwehrlenkwaffe konnte mit dem Brieftaubendienst ein effizientes Kuriernetz betrieben werden», betont etwa Rita Schmidlin, Oberleutnant und Züchterin. Auch Major Lipp vermutet eine reine Imageübung: «Einem Teil der Generalität ist es peinlich, dass die Armee Brieftauben einsetzt. In diesen Kreisen brüstet man sich lieber mit möglichst teurer und moderner Technik.» Unbestritten ist aber, dass die Schweiz zu den ganz wenigen Staaten gehört, die überhaupt noch gefiederte Kuriere unterhalten. Die Briten etwa schafften ihre Militärbrieftauben bereits 1948 ab.

Aufstand gegen das «Massaker»

Besonders verärgert sind die privaten Züchter, die rund 23 000 der 30 000 Armeevögel zur Verfügung stellen – Entschädigung: jährlich 5 Franken, täglich 40 Gramm Futter, dazu pro Diensttag und Taube 25 Rappen Sold. Ihnen hat das EMD unterstellt, sie liessen sich lediglich ihr Hobby vom Militär mitfinanzieren. Dabei sei das Gegenteil richtig, stellen sie klar: Die Armee profitiere enorm vom flächendeckenden zivilen «Schlagnetz». Zusätzlich Öl ins Feuer giesst ein Sprecher des EMD, als er auf die Proteste angesprochen wird: «Wenn man auf jede Mini-Lobby, auf Tauben- und Kaninchenzüchter Rücksicht nehmen will, kann man kein Land führen.»

Treue Befürworter der Landesverteidigung opponieren nun erst recht gegen das EMD. Sie rufen im Oktober 1994 ein «Komitee für eine Armee mit Brieftauben» ins Leben, das die Vögel mit einer Volksinitiative in der Verfassung festschreiben will. Es gelte, ein «Massaker» zu verhindern. Was mit den ausgemusterten, militärisch: «liquidierten», Brieftauben der Armee passieren soll, hat das EMD bisher nicht kommuniziert. Werden sie verschenkt, versteigert, ins Ausland verkauft oder an Züchter weitergegeben? Klar ist bloss, dass sie nicht im Kochtopf landen sollen.

Robust, ausdauernd, genügsam: Nachwuchs für den Brieftaubendienst der Armee, 1941. (Bild: Schweizerisches Bundesarchiv)

Robust, ausdauernd, genügsam: Nachwuchs für den Brieftaubendienst der Armee, 1941. (Bild: Schweizerisches Bundesarchiv)

«Die 100 000 Unterschriften für die Initiative werden in kürzester Zeit zusammenkommen», prophezeit Hans-Peter Blättler, der Chefredaktor des Wochenblatts «Tierwelt», das sich für die Taubenfreunde publizistisch ins Zeug legt. Blättler sagt aber auch: «Mit dieser Initiative machen wir uns wieder einmal lächerlich. Die Schweiz wird als Land dastehen, das offenbar keine grösseren Probleme hat als die Armeebrieftauben.»

Raub der Identität?

Tatsächlich berichten ausländische Medien genüsslich über das skurrile Schauspiel, das sich in der Eidgenossenschaft bietet. Der «Spiegel» schreibt: «Der Armee droht nun ein Aufstand der kleinen Leute. Gerade im Milieu der Kleintierhalter und Schrebergärtner fliesst zusammen, was zur staatstragenden biederen Schweiz gehört: Anstand, Fleiss, Patriotismus, konservativer Bürgersinn. Sie quält das Gefühl, dass der Eidgenossenschaft Stück für Stück die Identität geraubt wird.» Aber auch die «Basler Zeitung» werweisst: «Ist es tatsächlich eine Frage der Vernunft, die Brieftauben weiterhin im Dienst zu behalten? Oder ist dies alles Ausdruck typisch schweizerischen Bünzlitums?»

Wie auch immer, die Drohkulisse Volksinitiative bleibt nicht ohne Wirkung. Der militärische Brieftaubendienst lässt sich zwar nicht mehr retten. Doch nach diversen Aussprachen zwischen dem EMD und den Züchtern kommt es im Juli 1996 zu einer gütlichen Einigung, worauf die Initianten die Unterschriftensammlung einstellen. Der Züchterverband erhält die verbliebenen Tiere, technisches Material sowie Schläge kostengünstig. Ein Teil der Brieftauben aus dem Armeebestand ist zu diesem Zeitpunkt bereits verschenkt und mitunter in weit entfernte Länder verfrachtet worden, zum Beispiel nach Südafrika. Vor allem aber wird die Schweizerische Brieftaubenstiftung gegründet, die als gemeinnützige Organisation den Fortbestand der Zuchtstation Sand-Schönbühl gewährleistet und den Wissensaustausch zwischen Brieftaubenhaltern und der Forschung betreibt – bis heute.

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