Bau-Gewerkschafterin Anna Andreeva (40) über ihre Flucht nach Genf:

«Unterwegs war die Hölle los!»

Jonas Komposch

Nach 22 Tagen Flucht ist Anna Andreeva* in Genf angekommen. Geholfen hat ihr die BWI, die Bau- und Holzarbeiter Internationale. Nun verrät die Russin aus Kiew, was sie von Wladimir Putin und Wolodimir Selenski hält.

GEWERKSCHAFTERIN ANNA ANDREEVA: «Innerhalb eines Tages habe ich zwei Heimaten verloren, jene in Kiew in der Ukraine und jene in Russland. Weil ich nicht weiss, ob ich jemals wieder in mein Geburtsland reisen kann.» (Foto: Olivier Vogelsang / «l’Événement»)

work: Frau Andreeva, Sie sind ­Russin und mussten vor ­russischen Bomben fliehen. Wie ist das für Sie?
Anna Andreeva: Es stimmt mich traurig. Innerhalb eines Tages habe ich zwei Heimaten verloren. Jene in Kiew in der Ukraine, weil 200 Meter neben unserem Zuhause eine Granate explodierte und ein riesiges Feuer ausbrach. Und jene in Russland, weil ich nicht weiss, ob ich jemals wieder in mein Geburtsland reisen kann. Und ob ich meine Eltern in St. Petersburg je wiedersehen werde.

Wie haben Sie die Bombardements überstanden?
Wir verliessen Kiew am dritten Tag des Krieges. Doch gerade zu Beginn der
Invasion gab es besonders viele Luftschläge. Die russische Armee hatte ja geplant, Kiew in einem Blitzkrieg einzunehmen. Am Abend hörten wir jeweils Explosionen. Sie wurden immer lauter. Schlafen konnte niemand mehr. Fenster zitterten, Alarmanlagen heulten. Und bald konnte ich anhand des Detonationslärms die Entfernung der Einschläge abschätzen.

Und Ihr vierjähriger Sohn?
Der hatte grosse Angst. Ich auch. Er aber verstand überhaupt nicht, was los war. Ständig fragte er, wann dieser Lärm aufhöre. Zur Ablenkung schauten wir einen Trickfilm – bei voller Lautstärke. Doch wir weinten beide.

«An der Grenze empfingen uns zum Glück viele freiwillige Helferinnen aus Moldawien.»

Ihre Flucht nach Genf dauerte 22 Tage. Warum so lange?
Weil es zu Kriegsbeginn für uns Russinnen und Russen nicht klar war, ob Europa uns ohne Visum aufnehmen würde. Mit dem Team der Bau- und Holzarbeiter Internationale schmiedete ich einen Evakuierungsplan mit Umwegen über Moldawien und Rumänien nach Genf. Unterwegs war die Hölle los. Die Lastwagen der ukrai­nischen Flugabwehr verstopften die Strassen. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns hinter dem Militär einzureihen. Wir wollten einfach nur noch weg. An der Grenze empfingen uns zum Glück viele freiwillige Helferinnen aus Moldawien. Sie verteilten Nahrung und Kleider.

Wie wichtig war diese Hilfe?
Enorm wichtig! Die Behörden glänzten ja durch Abwesenheit. Beinahe wäre ich deswegen zur Anarchistin geworden. Denn ich habe erlebt, dass die Leute sich selbst organisieren können und keinen Staat brauchen. Das zeigt sich, wenn es zu wirklich kritischen Situationen kommt. Dann helfen die Menschen sich gegenseitig, unabhängig von Gesetzen und politischen Agenden. Und: Moldawien ist das ärmste Land Europas. Die Leute haben selber fast nichts. Doch was sie haben, das geben sie. Offene Türen überall. Sehr eindrücklich!

Ukrainische Männer dürfen ihr Land nicht mehr verlassen. Auch Sie mussten sich von Ihrem Mann an der Grenze verabschieden …
… er wäre niemals weggegangen! Mein Mann ist der Präsident der ukrainischen Bauarbeitergewerkschaft. Er wird gebraucht. Die meisten Gewerkschaften haben sich in Lwiw, im Westen der Ukraine, gesammelt und organisieren sich da neu. Sie leisten Fluchthilfe, verteilen Spenden und verwandeln ihre Hotels und Sanatorien in Notunterkünfte.

Und die normale Gewerkschaftsarbeit ruht?
Nein, wir haben zum Beispiel durchgesetzt, dass Arbeitnehmende trotz Kriegsausbruch auch den Februarlohn erhalten. Das war in vielen Firmen nicht selbstverständlich. Und jetzt bekämpfen wir das neue Arbeitsgesetz, das Präsident Selenski genau vier Wochen nach Kriegsbeginn in Kraft gesetzt hat.

Die Gewerkschaften stellen sich gegen Selenski?
In dieser Sache schon. Denn das neue Gesetz beschneidet die Rechte der
Arbeitnehmenden massiv. Es erlaubt längere Arbeitszeiten und schlechtere Arbeitsbedingungen. Auch Entlassungen werden einfacher und die Entschädigungen tiefer. Die Regierung argumentiert, das helfe dem Land im Krieg. Doch das stimmt nicht. Es braucht jetzt kein neues Gesetz. Um die Versorgung zu gewährleisten, waren die Arbeiter schon vorher zu Mehrarbeit bereit. Und: Das Parlament hatte bereits vor dem Krieg zweimal versucht, dieses Gesetz einzuführen. Jetzt haben sie den Krieg dafür missbraucht, es durchzubringen.

Stimmt es, dass das britische Aussenministerium die ukrainische Regierung in dieser Sache beraten hat?
Nicht nur, auch Berater aus den USA waren beteiligt. Dass es eine Reform braucht, bestreite ich gar nicht. Denn das Arbeitsrecht deckt die neu aufkommenden Beschäftigungskategorien nicht ab: Die IT-Branche fehlt komplett, auch Vorschriften zur Selbständigkeit und zu Home-Office fehlen völlig. Das ist so, weil das ukrainische Arbeitsrecht immer noch stark sowjetisch geprägt ist. Und zwar so sehr wie in keinem anderen Land der ehemaligen UdSSR. Überall sonst hat man die einst vorbildlichen Arbeitnehmerrechte weitgehend ausgehöhlt. In der Ukraine beginnt das erst jetzt. Dabei bräuchte es keine Abbau-reformen, sondern solche, die schlicht auch die neuen Wirtschaftskategorien regulieren würden.

«Die Gewerkschaften leisten Fluchthilfe, verteilen Spenden
und verwandeln ihre Hotels in Notunterkünfte.»

Was sagen Sie zu Putins Argument, die Ukraine müsse «ent­nazifiziert» werden?
Schauen Sie, Wolodimir Selenski ist Jude. Wie soll ein jüdischer Präsident ein Land von Nazis regieren? Die Ukraine ist und bleibt ein multi-ethnisches Land.

Warum aber ist das eindeutig rechtsextreme Asow-Regiment mit seinen rund 2000 Kämpfern offi­zieller Teil der ukrainischen Armee?
Das frage ich mich auch. Aber der politische Arm dieser Leute hat in der Ukraine keinerlei Erfolg. Sie haben es in den Wahlen von 2019 nicht einmal ins Parlament geschafft. Trotzdem sagt Putin, die Ukrainer würden von einer Bande von Nazis regiert und unterdrückt. Das Volk könne sich nicht mehr frei äussern und müsste befreit werden. Das ist schlicht absurd.

Auch der grösste russische Gewerkschaftsdachverband FNPR unterstützt Putins Krieg. Erstaunt Sie das?
Nein. Dieser Verband unterstützt Putins Partei schon sehr lange. Erstaunt hat mich aber, dass er unmittelbar nach der Invasion ein aggressives Kriegspamphlet veröffentlicht hat. Damit zeigt er, dass er definitiv nicht mehr unabhängig ist. Es liegt schliesslich in der Natur aller Gewerkschaften, sich grundsätzlich ­gegen jeden Krieg zu stellen – unabhängig von politischen Einstellungen. Das Hauptproblem ist aber, dass die meisten Russinnen und Russen der Kriegspropaganda glauben.

Aber es gibt doch auch eine ­Friedensbewegung in Russland!
Hut ab vor diesen mutigen Menschen! Doch ich sehe schwarz. Wer protestiert, riskiert 15 Tage Haft, zudem eine Busse von umgerechnet 500 Franken, was einem durchschnittlichen Monatslohn entspricht, und obendrauf noch 16 Tage Arbeitsdienst. Das macht auf Dauer niemand mit.

Und wie geht es jetzt für Sie ­weiter?
Als Erstes muss ich in Genf eine Wohnung finden, was schwierig ist. Gleichzeitig beginne ich zu arbeiten, auf dem dortigen BWI-Büro. Der Kleine geht bereits in die Schule. Er liebt die Genfer Trams und kann schon «nächster Halt» auf französisch sagen.

* Anna Andreeva (40) ist Kampagnenver­antwortliche bei der Bau- und Holzarbeiter Internationale (BWI). Nach ihrem Jusstudium in Berlin, Kassel und St. Petersburg heiratete die Russin einen ukrainischen Gewerkschafter. Die letzten zehn Jahre lebte das Paar in Kiew.

Anna Andreeva: «Wir müssen zusammenhalten!»

Das sagt Bau-Gewerkschafterin Andreeva den Schweizer Bauleuten, die gerade für einen besseren ­Gesamtarbeitsvertrag kämpfen: «Ich habe schon immer an die Kraft der Arbeiterbewegung ­geglaubt. Doch in diesen Tagen habe ich ganz direkt erfahren, wie stark wir sind, wenn Gefahr droht und wir für einander da sind. Den Schweizer Bauarbeitern rate ich daher: Haltet auch ihr zusammen, dann ist alles möglich!»

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