Ein Jahr vor der Fussball-WM in Katar: Bau-Gewerkschafterin Paola Cammilli warnt:

«Ein WM-Boykott würde den Arbeitern schaden»

Patricia D'Incau

Katar hat bereits sieben von acht Stadien für die Fussball-WM 2022 eingeweiht. Doch wie geht es den Tausenden Arbeitsmigranten, die sie ­gebaut haben? Paola Cammilli* (38) von der ­internationalen Baugewerkschaft BHI ist ­zurzeit vor Ort.

BEREIT FÜR DEN ANPFIFF: Khalifa-Stadion in Doha. (Foto: Keystone)

work: Frau Cammilli, genau in einem Jahr steigt die Fussball-WM in Katar. In der Vergangenheit prangerten die Gewerkschaften das Land immer wieder wegen sklavenähnlicher Arbeitsbedingungen an. Wie ist die Situation heute?
Paola Cammilli: Noch vor fünf Jahren war es normal, dass Löhne nicht bezahlt wurden. Oder 10 Menschen, manchmal sogar 18, zusammengepfercht in einem Zimmer lebten. Den Arbeitern wurden die Pässe weggenommen, und es galt das «Kafala»-System. In diesem durften sie nicht ohne die Erlaubnis ihrer Chefs die Stelle wechseln oder heimreisen. Das ist heute anders, einiges hat sich seither verbessert.

BHI-Gewerkschafterin Paola Cammilli. (Foto: ZVG)

Was denn?
Es gab mehrere Reformen. Nach Gesetz dürfen die Arbeitenden jetzt selber bestimmen, wann sie ihren Job wechseln oder das Land verlassen wollen. Die Konfiszierung von Pässen wurde verboten und ein nationaler Mindestlohn eingeführt: 1000 Rial pro Monat, also etwa 275 Dollar. Immer noch viel zu wenig! Aber für viele eben doch mehr als bisher.

Noch weiter gehen die Verbesserungen auf den WM-Baustellen. Seit wir dort Inspektionen durchführen, ist die Arbeitssicherheit gestiegen. Die Arbeiter haben anständige Unterkünfte, gesunde Mahlzeiten und werden pünktlich bezahlt. Ausserdem haben wir den Aufbau von Arbeiterforen unterstützt, mit denen die Arbeitenden ihre Anliegen vertreten – und das in einem Land, in dem Gewerkschaften verboten sind! Davon profitieren rund 37’000 Arbeiter. Wobei wir natürlich wollen, dass diese Standards künftig auch für die rund 2 Millionen weiteren Arbeitsmigrantinnen und -migranten im Land gelten, die nicht auf den WM-Baustellen arbeiten.

«Der internationale Druck auf Katar muss unbedingt aufrechterhalten werden.»

Hat die Corona-Pandemie diese ­Fortschritte gebremst?
Viele Menschen verloren ihre Jobs, wie überall auf der Welt. Weil es in Katar aber keinen Lockdown auf dem Bau gab, hatten hier 50 Prozent aller Arbeitsmigranten weiterhin Arbeit. Sie profitierten plötzlich sogar von einer besseren Wohn- und Schlafsituation. Denn: Um Massenansteckungen zu verhindern, hat die Regierung strikte Regeln durchgesetzt, wie viele Personen gleichzeitig in einem Raum sein dürfen. Fehlbare Firmen werden bestraft. Bis heute hat Katar eine der weltweit tiefsten Covid-Todesraten.

Moment! Sie sagen tatsächlich, die Pandemie habe sogar Verbesserungen gebracht?
Ja, das ist so. Dazu muss man aber auch wissen: 90 Prozent aller Arbeitenden in Katar sind Migrantinnen und Migranten. Fallen sie weg, läuft hier nichts mehr.

Zurück zu den Reformen: Die Ein­führung des Mindestlohns, die ­Abschaffung des berüchtigten «Kafala»-Systems – das klingt ja tatsächlich gut. Nur: wie viel davon wird auch wirklich umgesetzt?
Es gibt immer noch viele Verstösse, das muss man nicht schönreden. Und doch können wir sagen: Die Situation ist für viele Arbeitende besser geworden. Ein wichtiger Schritt dahin ist, dass sie ihre Rechte auch tatsächlich einfordern können. Kürzlich hat das Arbeitsministerium eine Plattform lanciert, über die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Beschwerden online eingeben können. Sogar die Hausangestellten, die bisher nicht unter das Arbeitsgesetz fielen! Das sind alles Schritte in die richtige Richtung. Und doch bleibt die Frage, ob die Menschen ihre neuen Rechte tatsächlich kennen und ob sie sie ohne Angst einfordern können.

Es gibt Stimmen, die einen Boykott der Fussball-WM fordern. Etwa die Schweizer Juso. Was würde das den ­Arbeitenden bringen?
Nichts. Die Arbeitenden selbst sagen, ihnen würde ein Boykott schaden. Ich denke, das muss uns alle daran erinnern, dass wir zuhören sollten, bevor wir Forderungen lancieren.

­Am Anfang waren die Gewerkschaften die grössten Kritikerinnen dieser WM. Jetzt betonen Sie, welche Fortschritte es gegeben habe. Hat die Zusammenarbeit mit dem katarischen Staat und der Fifa die Gewerkschaften gezähmt?
(Lacht) Das ist mir neu! Nein, da kann ich Sie beruhigen: Nur weil wir sagen, dass eine ­Veränderung stattgefunden habe, heisst das nicht, dass wir keinen Druck mehr ausüben. Viel zu oft noch werden Reformen ungenügend umgesetzt und fehlbare Chefs nicht bestraft. Der internationale Druck muss also unbedingt aufrechterhalten werden. Er darf auf keinen Fall mit der WM enden!

* Paola Cammilli ist Kampagnenverant­wortliche bei der internationalen Baugewerkschaft BHI. Seit 2017 führt die BHI auf den WM-Baustellen Arbeitsinspektionen durch, unterstützt unter anderen durch die Unia. Möglich macht das ein Abkommen mit dem Supreme Committee, das in Katar für den Bau der WM-Infrastruktur zuständig ist.

WM in Katar: 15 000 tote Arbeiter?

Immer wieder gerät Katar in die Schlag­zeilen: wegen Ausbeutung, «moderner ­Sklaverei» und Arbeitern, die tot zusammenbrechen (work berichtete: rebrand.ly/toed­liche-sonne). Wie viele das sind: darüber wird seit langem spekuliert. Genaue Zahlen gibt es kaum. Nun berichtete der deutsche ­Sender ZDF am 12. Dezember: Seit der WM-Vergabe vor elf Jahren habe es in Katar 15’000 tote Gastarbeiter gegeben. Eine Bombe! Nur: Ganz stimmen dürfte diese Aussage so nicht. Sie stützt sich auf einen Bericht von Amnesty International, der wiederum die katarische Regierung zitiert. Ihre ­offiziellen Statistiken zählen tatsächlich 15’021 tote Ausländerinnen und Ausländer zwischen 2010 und 2019. Allerdings umfasst diese Zahl alle Toten: von verstorbenen Säuglingen bis zu über 95jährigen.

MINI-SCHRITT. Damit bleibt unklar, wie viele Arbeiterinnen und Arbeiter sterben, weil sie in der tödlichen Hitze chrampfen müssen, zu wenig zu trinken bekommen oder mit schlechtem Essen versorgt werden. Für die internationale Baugewerkschaft BHI ist klar: Das muss sich ändern. Sie fordert von der katarischen Regierung deshalb, dass alle Todesfälle überprüft und die Todesursachen genau ausgewiesen werden. Und warnt: «Bleibt dies aus, so kann die Statistik für die FIFA-Fussball Weltmeisterschaft Katar 2022 zu einem beispiellosen Schandfleck werden.»

Zumindest ­einen kleinen Schritt hat Katar diesen ­Frühling gemacht: Per Dekret verordnete die Regierung Arbeitsstops bei grosser Hitze und Luftfeuchtigkeit. Ausserdem sind Hitze­stress-Trainings, Schutzkleidung und jähr­liche Gesundheitschecks seither Pflicht.

1 Kommentar

  1. Beat Hubschmid

    Die Toten werden wieder lebendig, das Fest kann steigen – was für eine Heuchelei!

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