Darum ist unser Strom jetzt so teuer – aber nicht für alle

Strom­preis-Explosion ist kein Unfall

Clemens Studer

Strom wird durchschnittlich 27 Prozent teurer. Die Axpo bekommt eine Not-Kredit-Limite des Bundes über 4 Milliarden Franken. Erste Firmen melden Kurzarbeit an. ­Alles die gleiche Krise? Nein – aber alles eine Frage des Systems.

STROMPREISEXPLOSION: Um Haushalten mit kleineren und mittleren Einkommen zu helfen, fordern die Gewerkschaften einen Preisdeckel und finanzielle Entlastungen. Bezahlt durch die Krisengewinne der Stromkonzerne. (Foto: Depositphotos)

Wie teuer wird’s?

Im Durchschnitt wird der Strom in der Schweiz für Private und Firmen im reglementierten Markt um 27 Prozent teurer. Doch wie es so ist mit Durchschnittswerten: es gibt Stromversorger, die schlagen um über 280 Prozent auf, bei anderen bleibt der Preis mehr oder weniger stabil.

Warum zahlen nicht alle mehr?

Besser stehen grundsätzlich Haushalte und KMU da, die in der Grundversorgung sind. Hier werden die Preise staatlich zumindest teilweise kontrolliert. Noch besser stehen Private und Firmen da, deren Stromversorger viel Strom selber produzieren und nicht einfach damit handeln, das heisst möglichst billig einkaufen und möglichst teuer verkaufen wollen. In der rot-grün regierten Stadt Zürich zum Beispiel steigt der Strompreis gar nicht. Das EWZ produziert mit eigenen Wasser-, Wind- und Solarkraftwerken mehr Strom, als seine Kundinnen und Kunden verbrauchen. Für die Kundinnen und Kunden der Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ), des Energieversorgers des rechtsbürgerlich regierten Kantons, steigen die Strompreise um rund einen Viertel. Grund: Die EKZ besorgen sich den grössten Teil des von ihnen verkauften Stroms auf dem Strommarkt und produzieren ihn nicht selber.

Die Sache mit «dem freien Markt» I – Börse

Verkauft ein Stromversorger mehr Strom, als er selber produziert, muss er diesen auf dem so­genannten freien Markt einkaufen. Diese Geschäfte laufen zur überwältigenden Mehrheit über die Strombörse. Hier gibt es – vereinfacht – zwei Preise: einen für Strom, der kurzfristig gebraucht und geliefert wird. Das ist der sogenannte Spotmarkt. Er trägt länderübergreifend zur Stabilisierung der Netze bei und gleicht Schwankungen aus. Daneben gibt es den Terminmarkt. Hier wird Strom über Monate und Jahre im voraus ge- und verkauft. Es ist ein pures Spekulationsgeschäft. Weil die Aussichten seit rund einem Jahr ungünstig sind (siehe Artikel links) und sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine weiter verschlechtert haben, sind die sogenannten Terminpreise auf Rekordhoch. Konkret: Vor der Krise schwankte der Preis für Strom, der im ersten Quartal 2023 produziert und geliefert werden wird, zwischen 50 und 100 Euro. Im Juli lag er bei über 1000 Euro. Ende August stieg er auf 1700 Euro. Seither ist er wieder auf 925 Euro gesunken (Stand Redaktionsschluss, 14.9).

Die Strompreise werden dabei nach dem sogenannten Merit-Order-Prinzip festgelegt. Das geht so: Ein Stromversorger, der mehr an seine Endkundinnen liefern muss, als er produziert, sucht den fehlenden Strom an der Börse. Dort bieten Produzenten Strom zu ihren Gestehungskosten an. Die sind je nach Produktionsart unterschiedlich. Doch der Zuschlag erfolgt zum Preis, der vom teuersten Anbieter ausgerufen wird. Zurzeit sind das Gaskraftwerke, die wegen der explodierten Gaspreise enorm teuer produzieren. Dieses Prinzip bedeutet, dass die Produzenten mit günstigen Grenzkosten enorme Gewinne einfahren. Gleichzeitig müssen sie bis zur Lieferung des Stroms in der Zukunft Sicherheiten hinterlegen (siehe: Die Sache mit dem Markt III – Axpo).

Die Sache mit «dem freien Markt» II – Liberalisierung

Die sogenannte Liberalisierung des Strommarktes ist ein Lieblingskind der Wirtschaftsverbände und der rechten Parteien. Immer und immer wieder brachten sie diese aufs Tapet. Zum Glück in der Schweiz nur teilweise erfolgreich. Nur wer mehr als 100 000 Kilowattstunden Strom pro Jahr verbraucht, kann sich auf dem freien Markt eindecken. Unter dem heroischen Motto «Einmal frei, immer frei» stürzten sich rund 23 000 Firmen in das Stromcasino. Einige Gewerbler und Wirte liessen ihre grössten stromfressenden ­Maschinen dem Vernehmen nach sogar «leer» laufen, um auf den für die «Freiheit» nötigen Verbrauch zu kommen. Und haben jetzt grosse Probleme – grösser als jene Unternehmen, die in der Grundversorgung blieben. Übrigens: Dass es für KMU und Haushalte noch einen Stromsektor mit regulierten Preisen gibt, ist dem Widerstand der Gewerkschaften zu verdanken. Am 22. September ist es genau zwanzig Jahre her, dass die vollständige Liberalisierung des Strommarktes abgelehnt wurde. Die Gewerkschaften hatten das Referendum ergriffen dagegen. Die damalige SP-Bundeshausfraktion musste zuerst von der Parteibasis zur Besinnung gebracht werden.

Das es überhaupt noch regulierte Preise gibt, ist den Gewerschaften zu verdanken.

Die Sache mit «dem freien Markt» III – Axpo

Der Energiekonzern Axpo steht exemplarisch für die Auswüchse des sogenannt freien Strommarktes. Und ist jetzt notfallmässig auf staatlichen Beistand angewiesen. Die Axpo gehört den Nordostschweizer Kantonen und ist in den vergangenen Jahren zu einer von den rechtsbürgerlich regierten Besitzern tolerierten Zockerbude verkommen. Trotz ihrem festgehaltenen Zweck, für eine «sichere und preisgünstige Stromversorgung» zu sorgen. Im letzten Halbjahr machte die Axpo einen Umsatz von 6 Milliarden Franken. Davon stammen gerade einmal 1,4 Milliarden aus der eigenen Stromproduktion. Der Rest aus Spekulation. Die Axpo beendet ihr Geschäftsjahr jeweils Ende September. Bis dahin wird sie dann wohl 12 Milliarden Franken im Handel umgesetzt haben – fünfmal mehr als mit der Produktion. Es ist zu erwarten, dass die Axpo zum Beispiel aus ihren längst abgeschriebenen AKW dank dem Merit-Order-Prinzip (siehe: Die Sache mit «dem freien Markt» I – Börse) in den nächsten Monaten gigantische Gewinne einfahren wird. Doch die Zockerei hat ihren Preis. Wer an der Strombörse spekuliert, muss Sicherheiten hinterlegen. Das funktioniert vereinfacht so: Ein Stromproduzent oder -händler verspricht, zu einem bestimmten Zeitpunkt im März eine bestimmte Menge Strom zu liefern. Für den dafür vereinbarten Preis muss der Anbieter eine Art Depot hinterlegen. Die Idee dahinter: Liefert ein Stromanbieter nicht, soll der Stromkäufer den versprochenen Strom auf dem Markt einkaufen können, zulasten des ausgefallenen Produzenten. Das bedeutet: je höher der vereinbarte Preis, desto höher ist das Depot. Jetzt hat sich die Axpo in einem Ausmass in die Zockerei gestürzt, dass ihr das flüssige Geld für die Depots auszugehen droht. Darum muss jetzt der Bund mit einer Milliardengarantie einspringen. Die Steuerzahlenden übernehmen also das Risiko, in das sich die vor kurzem noch so hochmütigen und immer noch fürstlich bezahlten Strommanagerinnen und -manager gestürzt haben.

Was heisst das für die Haushalte?

Auch wenn dank dem regulierten Markt die Strompreiserhöhungen geringer ausfallen als auf dem freien, ist die Belastung für Zehntausende Haushalte enorm. Gerade für solche mit kleinen und mittleren Einkommen. Die Gewerkschaften und die fortschrittlichen Parteien fordern deshalb einen Strompreisdeckel und Entlastungen für Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen. Finanziert werden sollen diese aus den Krisengewinnen, die von Stromkonzernen eingefahren werden.

Was heisst das für die Firmen?

Für Firmen in der Grundversorgung ist die Situation ähnlich wie für die Haushalte. Auch sie brauchen je nach Situation Unterstützung, obwohl sie im regulierten Markt besser geschützt sind als jene, die sich daraus abgemeldet haben. Letztere haben in den vergangenen Jahren tendenziell profitiert, weil die Marktpreise niedriger waren als die regulierten Preise. Jetzt ist es massiv umgekehrt. Vor allem für jene, die sich nicht abgesichert haben, ist das ein Problem. «Selber schuld», könnte man jetzt denken. Doch Häme ist fehl am Platz. Nicht wegen der Manager und Gewerbler, die sich da verzockt haben. Sondern ­wegen der Lohnabhängigen, die von Stellenverlust oder Mindereinkommen wegen Kurzarbeit bedroht sind.

Darum schlagen die Gewerkschaften und die fortschrittlichen Parteien Massnahmen zum Schutz der bedrohten Arbeitsplätze vor. Das gilt besonders auch für die Branchen, die am stromintensivsten sind. Für sie soll ein Fonds aus abgeschöpften Krisengewinnen der Stromkonzerne geäufnet werden, der ihnen einen Teil des Verbrauchs zu Gestehungskosten liefert.

Für KMU und Gewerbler ist auch eine Wiederaufnahme in die Grundversorgung denkbar. Allerdings müssten die Bedingungen (zum Beispiel Verbleibdauer, temporärer Tarifzuschlag) berücksichtigen, dass die «einmal frei, immer Freien» sich ein grosses Stück selber in die missliche Lage gebracht haben. Sonst bezahlen alle anderen Kundinnen und Kunden für das Marktabenteuer einzelner.

Eine – allerdings am liebsten bedingungslose – Rückkehrmöglichkeit fordert unterdessen auch der Gewerbeverband SGV. Ausgerechnet einer der lautesten «Strommarkt für alle öffnen»-Schreier. Ein SGV-Zitat von vor nicht allzu langer Zeit: «Der Strommarkt ist endlich ganz zu liberalisieren. Der SGV steht zu einer marktwirtschaftlichen Energiepolitik. Sie belohnt Energieeffizienz und setzt auf unternehmerische Freiheit, Innovation und Marktliberalisierung.» Wie fast immer beim SGV ist das Gegenteil richtig, wie die aktuelle Situation ein weiteres Mal zeigt: die neoliberale Pseudo-Ordnung ist (auch) bei der Stromversorgung gescheitert.


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