Uhrenarbeiterin Liliane Valceschini hatte den Geistesblitz, der die Schweiz veränderte

«Dann träumte ich von einem Frauenstreik»

Jonas Komposch

Der Frauenstreik von 1991 war ihre Idee. Nun verrät ­Liliane Valceschini (81), wie es dazu kam und was der Streik mit ihrer italienisch-schweizerischen Familien­geschichte zu tun hat.

LILIANE VALCESCHINI: «Es macht mich glücklich, wenn ich sehe, wie die Frauen jetzt wieder mobilisieren. Wir dürfen einfach nie aufgeben!» (Foto: Yoshiko Kusano)

work: Frau Valceschini, der historische Frauenstreik von 1991 hat seinen Ursprung bei Ihnen im Jura. Wie kam es dazu?
Liliane Valceschini: An einem Treffen unserer Gewerkschaftssektion diskutierten wir über die Lohnungleichheit in ­unserer Branche. Auch wenn eine Uhrenarbeiterin exakt dieselbe Arbeit machte wie ihr Kollege, verdiente sie mit Sicherheit weniger als er. Das beschäftigte uns ungemein.

Und dann habt ihr direkt an Streik gedacht?
So schnell ging das nicht. Diese Idee hatte ich erst auf dem Nachhauseweg …

Moment. Sie ganz alleine sind auf diese Idee gekommen?
Ja. Aber wissen Sie, wenn nicht ich diesen Einfall ­gehabt hätte, wäre vielleicht sonst wer darauf gekommen.

«Ich hatte gar keine Erfahrung im Streiken.»

Aber Sie wussten, dass die Isländerinnen bereits 1975 einen grossen Frauenstreik organisiert hatten?
Nein. Damals gab es ja noch keine sozialen Medien und so. Ich fuhr also mit dem Auto von der ­Versammlung nach Hause. Während der ganzen Fahrt grübelte ich über Möglichkeiten, um endlich die Lohngleichheit durch­zusetzen. Plötzlich hatte ich einen Geistesblitz. Ich realisierte, dass es bald genau zehn Jahre her sein würde, seitdem am 14. Juni 1981 die Lohngleichheit in der Bundesverfassung festgeschrieben worden war. Zehn Jahre sind ein runder Geburtstag. Und einen solchen feiert man!

Zur Feier des Tages ein Streik?
Warum nicht? Die Idee liess mich jedenfalls nicht mehr los. Ich träumte von ihr und stellte mir eine Schweiz vor, in der alle Frauen vereint die Arbeit ­niederlegen würden. Ein paar Tage später war ich in Bern mit Christiane Brunner vom Smuv verab­redet.

Sie sind extra nach Bern gefahren, um der einflussreichen Smuv-Sekretärin den Streik vorzuschlagen?
Nein, eigentlich arbeiteten wir an irgendeinem Flugblatt. Es war schon spät, als wir damit fertig waren, und wir hatten einen Bärenhunger. Brunner kannte zum Glück eine Beiz, die noch geöffnet war. Am Tisch diskutierten wir über die Diskriminierung von uns Frauen. Irgendwann sagte ich: «Hör mal, ich habe eine Idee, aber die ist etwas verrückt.» Brunner wurde neugierig und wollte, dass ich Klartext spreche. Also liess ich die Katze aus dem Sack: «Was hältst du davon, wenn wir Frauen am 14. Juni schweizweit in den Streik treten?» Christiane war wie elektrisiert. Wie die mich angeschaut hat! Ihre Augen verrieten sofort: Sie war begeistert. Jetzt wusste ich, dass die Sache Fahrt aufnehmen wird. Wir bestellten beide ein Tatar, und es wurde eine sehr lange Nacht.

Aber damals herrschte in der Schweiz doch der Zwang zum Arbeitsfrieden. Nur schon das Wort «Streik» musste schockieren …
… genau das wollten wir ja. Einige meinten zwar, wir sollten einen anderen Begriff gebrauchen. Doch wir setzten uns durch.

Hatten Sie denn schon Erfahrung im Streiken?
Nein, überhaupt nicht. Bei uns in der jurassischen Uhrenindustrie gab es zu meiner Zeit keine Arbeitsniederlegungen. Aber wir hörten natürlich von den Streiks im Ausland. Von Frankreich etwa.

Und das hat Sie inspiriert?
Mich hat vor allem die Situation bei uns im Tal aufgerüttelt. Ungerechtigkeiten habe ich noch nie ertragen können.

Bereits als 17jährige sind Sie der Gewerkschaft beigetreten. Was war der Anlass?
Eigentlich wollte ich Übersetzerin werden, doch meine Eltern konnten mir die Ausbildung nicht ­finanzieren. Also ging ich mit 17 in die Uhrenfabrik. Auch meine Eltern arbeiteten dort. Eines Tages nahm meine Mutter allen Mut zusammen, ging zum Chef und fragte ihn, ob er ihren tiefen Lohn nicht etwas anheben könne. Aber der Chef antwortete bloss: «Wir geben schon Ihrer ganzen Familie Arbeit. Das muss reichen.» Was für eine Gemeinheit! Ich sagte: «Mama, ich werde der Gewerkschaft beitreten.»

Ihre Eltern waren bereits aktiv in der Arbeiterbewegung?
Ganz und gar nicht. Sie waren eher zurückhaltende Leute, die nicht viel Aufsehen erregen wollten. Sie sagten sich: «Wir Italiener sind hier bloss Gäste.» Sie trauten sich nicht, sich zu exponieren. Aber nach mir sind auch sie der Gewerkschaft beigetreten.

«Brunner war wie elektrisiert.»

War es schwierig für Sie als Italienerin im Jura?
Nur aus meiner Kindheit sind mir ein paar schlechte Erinnerungen geblieben. In der Schule gab es damals erst wenige Kinder von Migrantenfamilien. Wir waren eine Minderheit und wurden oft beleidigt. Einmal schimpfte ein Schüler: «Ihr Italiener fresst uns bloss das Brot weg.» Das schmerzte schon. Doch mit der Zeit hörten diese Sprüche auf, und wir hatten sehr viele Freunde im Tal.

Welche Rolle spielten Ihre italienischen Wurzeln für Ihr politisches Engagement?
Sicher hat mich die Geschichte meiner Familie geprägt. Mein Grossvater aus Florenz kam beim Bau des Lötschbergtunnels ums Leben. Mein Mann wiederum gelangte nach dem Zweiten Weltkrieg als 14jähriger in die Schweiz. Wie alle italienischen Saisonniers musste auch er sich beim Grenzübertritt in Brig nackt ausziehen und eine demütigende Körperkontrolle über sich ergehen lassen.

Noch vor acht Jahren kritisierten Sie die Frauen­bewegung, weil sie zu wenig ­kämpferisch sei. Was sagen Sie heute?
Ich hatte den Eindruck, dass kaum noch eine Bewegung existierte. Das hat sich eindeutig verändert. Es macht mich glücklich, wenn ich sehe, wie die Frauen jetzt wieder mobilisieren. Wir dürfen einfach nie aufgeben!

Madame Frauenstreik: Italienische Wurzeln

Liliane Valceschini kam 1937 als Tochter eines ­Florentiners und einer Schweizerin in Lausanne zur Welt. In einer Uhrenfabrik im Vallée de Joux lernte sie den anspruchsvollen Beruf der ­Régleuse, den sie bis zur Pensionierung ausübte. Die Mutter von drei Söhnen war jahrzehntelang ­aktive Gewerkschafterin beim Schweizerischen ­Metall- und Uhrenarbeiterverband (Smuv). Heute lebt sie mit ihrem Mann Francesco in Yverdon VD, wo sie am Frauenstreik eine Rede halten wird.


Frauen und Migration Italienerinnen brachten ­Kitas

Die Einwanderung in die Schweiz hat die Gleichstellung beschleunigt. Auch wenn die SVP das Gegenteil behauptet.

Historikerin Francesca Falk. (Foto: Yoshiko Kusano)

Bei den rechten Patriarchen ist es schwer in Mode, Migration als Bedrohung für die Frauenrechte zu verteufeln. Um gegen Geflüchtete und Migranten zu hetzen, ist den Scharfmachern eben jedes Mittel recht. Und so geben sich selbst die reaktionärsten Machos plötzlich als aufrechte Frauenfreunde.

Eine neue Studie entlarvt jetzt diese Ausländerfeinde. Die Historikerin Francesca Falk von der Uni Freiburg hat nämlich untersucht, wie die Ein- und Auswanderung die Gleichstellung in der Schweiz beeinflusste. Ihr Fazit lässt aufhorchen: «Migration hat die Frauenemanzipation mass­geblich vorangetrieben.» So waren es Russinnen, die in den 1860er Jahren erkämpften, dass Frauen an Schweizer Universitäten studieren durften. Und auch die Vorkämpferinnen für das Frauenstimmrecht waren häufig Schweizerinnen mit Migrationserfahrung.

«Italienische Organisationen förderten Kitas.»

VERPÖNTE KRIPPEN. Forscherin Falk hat ausserdem untersucht, wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit der italienischen Einwanderung der 1960er und 1970er Jahre zusammenhängt. Falk: «In migrantischen Familien aus der Arbeiterschicht mussten beide Elternteile arbeiten. Ganz im Gegensatz zu den meisten Schweizer Familien.» Dort sei die Frau ausschliesslich Hausfrau gewesen. Bei vielen Schweizerinnen und Schweizern war die ausserfamiliäre Betreuung sogar verpönt. In Krippen krabbelten deshalb überwiegend Kinder von Migrantinnen und Migranten. Und gefördert wurden die Tagesstätten oft durch migrantische Organisationen. Das änderte sich mit der Ölpreis- und Wirtschaftskrise 1973. Auf einen Schlag mussten Tausende ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter die Schweiz verlassen. Zurück blieben eine Menge freier Krippenplätze. Diese benutzte bald der Schweizer Mittelstand, der die Vorzüge der Fremdbetreuung erkannte.

INTERNATIONALE WELLE. Eine starke internationale Komponente hat auch der heutige Frauenstreik. Er ist Teil eines weltweiten feministischen Aufbruchs. Wie war das aber 1991? Welche Rolle spielten die italienischen Wurzeln der Ideengeberin für den ersten Frauenstreik? work unterhielt sich mit der Uhrenarbeiterin Liliane Valceschini (siehe Interview oben). Sie sagt: «Vielleicht ist es ja meine italienische Hälfte, die etwas schneller aufbraust und protestiert.»

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