Gewerkschaften fordern 2 Prozent mehr Lohn und zusätzlich 50 Franken pro Monat für die Frauen

Jetzt müssen die Löhne rauf!

Jonas Komposch

Rekord-Dividenden und Millionen-Saläre für die oben, sinkende Reallöhne für den Rest. Zugleich steigende Arbeitsproduktivität und eine solide Konjunktur: Das ist die Ausgangslage für den Lohnherbst 2019.

GSCHÄMIGE REALITÄT: Wie schlecht sind Schweizer Löhne wirklich? Sind nicht existenzsichernde Löhne tatsächlich eine Realität? work wollte die Beweise schwarz auf weiss und hat in den Unia-Regionen nachgefragt. Skandallöhne belegen? Für die Gewerkschaft kein Pro­blem. Im Nu trafen die Lohnausweise ein. Ob von jungen Frauen oder von jahrzehntelang im selben Betrieb tätigen Männern: sie zeigen 100-Prozent-Löhne zwischen 2650 und 4118.70 Franken. Brutto! Am krassesten ist der Lohnausweis aus der Tessiner Industrie: 2116 Franken netto für eine Vollzeitstelle.

Normalerweise lassen Wirtschaftsverbände und Arbeitgeber keine Gelegenheit aus, euphorische Lob­lieder auf den Schweizer Wirtschaftsstandort zu ­singen: «Innovation! Wachstum! Chancen!» tönt es jeweils in den schönsten Klängen. Doch immer gegen Ende Sommer ist das ganz anders. Dann nämlich steht der Lohnherbst vor der Tür, und bei den Arbeitgebern dominiert das Klagelied. Düstere Töne künden plötzlich von schlechten Prognosen und globalen Unsicherheiten. Adressatinnen und Adressaten dieses Katzenjammers sind die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften. Diese sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, Lohnerhöhungen einzufordern, die diesen Namen tatsächlich verdienen.

Jede dreizehnte vollzeitig erwerbstätige Person verdient monatlich weniger als 4335 Franken.

WIRTSCHAFT BRUMMT

Das ist auch in diesem Jahr so: Bereits Anfang August, noch bevor irgendeine Gewerkschaft ihren Forderungskatalog präsentiert hatte, vermeldete der Schweizerische Arbeitgeberverband: Die «hohen Forderungen von Gewerkschaftsseite» würden «den wirtschaftlichen Gegebenheiten nur unzureichend gerecht».

Fakt ist: Die Schweizer Wirtschaft brummt. Und zwar laut. Das zeigt etwa das erneute Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP). Von satten 2,6 Prozent Zuwachs im Jahr 2018 ging das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ursprünglich aus. Doch jetzt zeigt die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung vom Bundesamt für Statistik (BFS): Das BIP wuchs sogar um 2,8 Prozent – der höchste Wert seit 2010. Besonders kräftig zulegen konnte die Finanz- und Baubranche, die Chemie- und Pharmaindustrie, die Herstellung von Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen und optischen Erzeugnissen sowie Uhren. Auch die Exporte von Waren und ganz besonders von Dienstleistungen sind erneut stark angestiegen. Daniel Lampart, Chefökonom beim Gewerkschaftsbund, sagt: «Die Schweizer Konjunktur ist besser als oft dargestellt. Die Geschäftslage ist in nahezu allen Branchen gut oder zumindest befriedigend. Und die Industriefirmen rechnen für die kommenden Monate wieder mit leicht anziehenden Exporten.» Das zeigten die jüngsten Unternehmensumfragen der Konjunkturforschungsstelle der ETH.

Nach den vergangenen, etwas mageren Jahren nun also bessere Zeiten. Das hat seinen Grund: Gemäss BFS ist die Arbeitsproduktivität 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 2,4 Prozent angestiegen. Auch das ein beachtlicher Wert: Seit 2010 gab es kein derart starkes Produktivitätswachstum mehr. Die Arbeitnehmenden haben also Gas gegeben.

Die gute Konjunktur wirkte sich auch auf die Beschäftigungszahlen aus: Heute gibt es 61’000 Arbeitsplätze mehr als noch vor einem Jahr. Das zeigt die Beschäftigungsstatistik des Bundes. Zugleich sind fast 40’000 Stellen unbesetzt – das entspricht der höchsten Quote seit elf Jahren. Während Schweizer Firmen 2018 zünftig wachsen und profitabler werden konnten, sanken hingegen die Reallöhne der Arbeitnehmenden um 0,4 Prozent. Verantwortlich für diese Einbussen waren neben knausrigen Firmen auch die gestiegenen Preise – allen voran jene der Mieten. Sie frassen die bloss geringfügig angehobenen Nominallöhne weg. Und so standen die abhängig Beschäftigten letztlich mit weniger da. Und dies bereits zum zweiten Mal in Folge. Schon 2017 verdienten die Lohnabhängigen der meisten Wirtschaftszweige durchschnittlich 0,1 bis 0,8 Prozent weniger als im Vorjahr. Und: In diesen Berechnungen noch nicht enthalten sind die Krankenkassenprämien. Dabei steigen diese bekanntlich auch und haben sich seit 1999 sogar verdoppelt. Die tatsächlichen Einbussen der Lohnabhängigen waren in den letzten zwei Jahren also bedeutend höher, als die Reallohnverluste vermuten lassen.

Wohin das führt, zeigen abermals die Zahlen des BFS: In der reichen Schweiz wächst die Armut – und zwar massiv. Von 2014 bis 2017 stieg die Armenquote um volle 20 Prozent. Heute ist bereits jede zwölfte Person arm, muss also mit weniger als 2259 Franken im Monat zurechtkommen. Und: Unter den 615’000 Schweizer Armen sind 108’000 noch Kinder.

«Wenn sich jetzt nichts bewegt, wird der Zorn wachsen.»

ARMUT WÄCHST

Und längst garantiert auch Arbeit keine Existenzsicherung mehr. Zwar sind in der Schweiz die tiefen Löhne in den letzten zehn Jahren angestiegen. Vor allem dank den Gewerkschaften. Die offensive GAV-Politik und die Mindestlohnkampagen haben sich für die Berufstätigen in den Betrieben ausbezahlt. Und die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit (FlaM) sicherten die Löhne gegen Missbräuche ab. Dennoch sind heute 4,3 Prozent aller Erwerbstätigen (165 000 Personen) trotz Arbeit arm – auch das eine Zahl, die seit 2014 ansteigt. Im Gastgewerbe etwa gelten bereits 11,3 Prozent der Beschäftigten offiziell als arm. Und: 44 000 Personen verdienen trotz einem Vollzeitpensum nur 2166 Franken im Monat. Ein äusserst verbreitetes Problem sind zudem Tieflöhne von unter 4335 Franken. Die Frauen sind besonders davon betroffen (siehe Text links oben). Und die Lohndumpingregion Tessin. Aber auch schweizweit sind solche Löhne allgegenwärtig: Jede dreizehnte vollzeitig erwerbstätige Person erhält bloss einen Tieflohn. Am meisten solcher Tieflohnjobs gibt es im Detailhandel (25,7 Prozent aller Stellen), in der Textilindustrie (38,9 Prozent), in der Gastronomie (50,5 Prozent) und für persönliche Dienstleistungen, wie sie etwa Coiffeusen oder Masseure anbieten (59,1 Prozent).

Ausserdem sind 357’000 Erwerbstätige unterbeschäftigt, möchten also mehr arbeiten, finden aber keine Möglichkeit dazu. Oft muss in solchen Fällen die öffentliche Hand unterstützen. Was aber würde passieren, wenn die Sozialleistungen gekürzt oder sogar ganz gestrichen würden, wie das einige Rechte bereits fordern? Auch das hat das BFS untersucht. Konkret hat es berechnet, wie viele Menschen arm wären, wenn es – mit Ausnahme der AHV – gar keine Sozialleistungen mehr gäbe. Wenn also Familienzulagen, IV-Renten, verbilligte Krankenkassenprämien, die Sozialhilfe oder Taggelder der Arbeitslosenversicherung gestrichen würden und somit der «freie Markt» mit seiner «unsichtbaren Hand» völlig ungehemmt spielen dürfte. Resultat: 1,3 Millionen Arme in der Schweiz!

DIVIDENDEN SPRUDELN

Wohin aber fliesst der Mehrwert, den die Arbeitenden generieren, wenn nicht in ihre Löhne? Eine Antwort liefert die Lohnschere-Studie der Unia, die jedes Jahr sämtliche Löhne der 36 grössten Unternehmen der Schweiz untersucht. Fazit für das Jahr 2018: Im Schnitt war der Top-Lohn 134 Mal höher als der tiefste Lohn im gleichen Unternehmen. Der Durchschnitts-CEO der untersuchten Firmen kassierte demnach monatlich 388 000 Franken und obendrauf noch einen Dreizehnten. Zusammen zahlten sich die Geschäftsleitungsmitglieder der 36 Konzerne ein Jahressalär von fast einer Milliarde Franken. Die Hände reiben konnten sich auch die Aktionärinnen und Aktionäre schweizerischer Unternehmen. Wie der «Beobachter» kürzlich vorrechnete, kassierten diese im Jahr 2017 zusammen 190 Milliarden Franken. Noch nie waren die Ausschüttungen für Aktienbesitzende so hoch. Im Extremfall sieht das wie folgt aus: Bei Blochers Ems-Chemie erhielten die Aktionäre im letzten Jahr 432 Millionen Franken ausbezahlt. Demgegenüber betrug der gesamte Personalaufwand des Konzerns nur 244 Millionen. Damit hat die Familie Blocher, die 70 Prozent der Aktien besitzt, 57,6 Millionen Franken mehr eingenommen, als alle 3075 Mitarbeitenden zusammen verdienen.

Sämtliche dieser Tatsachen sind mehr als blosse «wirtschaftliche Gegebenheiten», wie das der Arbeitgeberverband suggeriert. Sie sind überwiegend das Resultat bewusst gefällter politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Was aber bedeutet das für den bevorstehenden Lohnherbst? Für Unia-Chefin ­Vania Alleva ist klar: «Die Zeit der Nullrunden ist vorbei. Wir starten in die Lohnoffensive!» Konkret fordert die Unia eine generelle Lohnerhöhung von 2 Prozent und für die Frauen zudem einen Zuschlag von monatlich 50 Franken. Was aber, wenn die Unternehmen weiterhin auf stur schalten? SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard sagt es so: «Wenn sich jetzt nichts bewegt, wird der Zorn wachsen, speziell bei den Frauen.»


Lohnherbst:Das fordert die Unia

  • Alle Branchen: Mindestens 2 % mehr für alle und zusätzlich mindestens 50 Franken mehr pro Monat für Frauen.
  • Ausbaugewerbe: +2 % und Erhöhung der ­Mindestlöhne um 2 %.
  • Detailhandel: +2 % generell.
  • Coop: +2 % für alle, eine Lohnanalyse und einen transparenten Masterplan mit den nötigen zusätzlichen Mitteln, um die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen abzuschaffen.
  • Tankstellenshops: +150 Franken auf alle Mindestlöhne und Einführung eines Mindestlohns im Tessin.
  • Coiffeurgewerbe: stufenweise Einführung eines 13. Monatslohns.
  • Gastgewerbe: +2 % auf alle Mindestlöhne.
  • Lebens- und Genussmittel­industrie (LGM) sowie Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM): +120 Franken oder +2 % und 200 Franken für alle Frauen mit weniger als 4000 Franken Monatslohn.
  • Chemie- und Pharmaindustrie: Generell 120 Franken (× 13) oder 2 % generell; zusätzliche Lohnerhöhung für Frauen von 200 Franken (× 13); Erhöhung der Löhne der Lernenden um 100 Franken (× 13).
  • Landesmantelvertrag (LMV) Bau: 80 Franken generell auf Mindest- und Effektivlöhne (bereits verhandelt).
    Gleisbau: 80 Franken generell auf Mindest- und Effektivlöhne (bereits verhandelt).
  • Reinigung Deutschschweiz: +2 bis 3,4 % auf die Mindestlöhne, je nach Lohnkategorie (bereits verhandelt).

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