Um die Pandemie wieder kontrollierbar zu machen, sollen die Österreicherinnen und Österreicher zu Hause bleiben. Zudem soll es bald Massentests geben.
Österreichs Regierung greift zur Bekämpfung der Corona-Pandemie erneut zum Vorschlaghammer. Wie Bundeskanzler Sebastian Kurz am Samstagnachmittag zusammen mit weiteren Regierungsmitgliedern erklärte, gilt ab Dienstag ein «harter» Lockdown. Das Land soll weitestgehend zum Stillstand kommen. Alle Geschäfte und Dienstleister, die nicht Grundbedürfnisse decken, müssen schliessen. Ausserdem herrscht eine ganztägige Ausgangssperre: Die Bürger dürfen das Haus nur noch für wichtige Besorgungen, die Pflege von Angehörigen und berufliche Verpflichtungen sowie zur körperlichen und geistigen Erholung verlassen.
«Jeder Kontakt ist einer zu viel», sagte Kurz dramatisch. «Treffen Sie niemanden.» Die Reduktion des Soziallebens sei der einzige Weg, die Pandemie in den Griff zu bekommen, auch wenn dies viele Menschen wütend mache. Der Lockdown soll drei Wochen dauern. Um im Dezember besser abzuschätzen, in welchen Bereichen das gesellschaftliche Leben wieder in Gang kommen kann, sollen auch massenhafte Antigen-Tests nach dem Vorbild der Slowakei durchgeführt werden, etwa in Schulen. Weitere Details kündigte der Kanzler für nächste Woche an.
Österreich liegt bei den Neuinfektionen pro Kopf weltweit mit an der Spitze. Diese nehmen ungebremst zu, obwohl die Regierung in Wien bereits Ende Oktober das öffentliche Leben drastisch eingeschränkt hatte. Sie schloss damals Restaurants, Bars, Sportstätten sowie Kultureinrichtungen und verhängte eine weitgehende Ausgangssperre zwischen 20 und 6 Uhr. Dennoch verdoppelte sich die Zahl der täglichen Ansteckungen seither auf knapp unter 10 000.
Die Gründe für den explosionsartigen Anstieg sind nur teilweise klar. So zeigt sich etwa, dass die Mobilität deutlich weniger stark zurückgegangen ist als im Frühling und sich die meisten im Haushalt anstecken. Doch die Contact-Tracer räumen ein, dass sich hinter dieser eher vagen Kategorie auch andere Infektionsquellen verbärgen, die schlicht nicht hätten eruiert werden können. Die in Österreich lange sehr professionell vorgenommene Rückverfolgung der Fälle bricht gegenwärtig unter der schieren Zahl zusammen: Nur noch 23 Prozent können einem Cluster zugeordnet werden.
Unter diesen Umständen eine kohärente, wissenschaftlich fundierte Politik zu betreiben, erweist sich als schwierig. Die Opposition kritisiert seit Monaten und oft zu Recht die mangelnde Transparenz und die schlechte Datenlage, die den Entscheidungen der Regierung zugrunde lägen. Dies hat stark mit der schlecht funktionierenden Abstimmung regionaler und nationaler Behörden innerhalb des österreichischen Föderalismus zu tun.
Zudem sind sich in entscheidenden Fragen oft auch die Experten uneinig. Dies zeigt sich auch an der Kontroverse um die vollständige Schliessung der Schulen, die am Samstag verkündet wurde. Durchgesetzt hat sie dem Vernehmen nach Kanzler Kurz – gegen den Widerstand nicht nur des grünen Juniorpartners, sondern auch von Vertretern seiner konservativen Volkspartei (ÖVP) in den Bundesländern. Unter Wissenschaftern in Österreich ist umstritten, wie stark Kinder und Jugendliche als Infektionstreiber agieren. Studien kommen dabei zu unterschiedlichen Resultaten.
imr. Österreich befand sich bereits seit dem 3. November in einem teilweisen Lockdown. Läden durften ihren Geschäften zwar noch nachgehen, geschlossen waren jedoch Museen, Theater, Kinos und Restaurants. Da die Regierung diesen Unternehmen gleichsam die Geschäftsausübung verbot, kam sie ihnen finanziell verhältnismässig grosszügig entgegen:
Sie will ihnen bis zu 80 Prozent des entgangenen Umsatzes ersetzen. Vergleichsbasis dafür sind die Verkäufe von November 2019. Im gleichen Mass werden nun im «harten Lockdown» auch «körpernahe Dienstleister» wie Coiffeure oder Kosmetikerinnen entschädigt.
Eine differenzierte Lösung ist laut Finanzminister Gernot Blümel für den Detailhandel vorgesehen. Je nach Sparte bekommen die Geschäfte eine Umsatzentschädigung von 20, 40 oder 60 Prozent. Auf einen Ersatz von 60 Prozent haben die Anbieter verderblicher Ware Anspruch. Dazu zählt zum Beispiel der Blumenhandel.
Noch unklar ist, wie es mit dem von Blümel ausgearbeiteten Fixkostenzuschuss II weitergehen wird. Unternehmen können ihn beantragen, um die Rechnungen für Gas, Miete oder Strom zu begleichen.
Allerdings hat die EU-Kommission diese Hilfsmassnahme noch nicht bewilligt. Sie sieht darin eine Beihilfe. Die Firmen können daher ab dem 23. November Zuschüsse von maximal 800 000 Euro beantragen.
An der Pressekonferenz liess Kurz durchblicken, dass Schulen nur schon deshalb nicht als Quellen für Infektionen abgeschrieben werden dürften, weil oft unklar sei, wo diese stattgefunden hätten. Viele Eltern klagen zudem darüber, dass die Schulen chaotisch auf Corona-Fälle reagierten. Am Donnerstag hatten sich die Experten der regierungseigenen Corona-Ampel-Kommission dennoch gegen eine Schulschliessung für Kinder unter 14 Jahren ausgesprochen.
In den Widerstand, den auch viele Betriebe mittragen, mischen sich auch soziale und wirtschaftliche Überlegungen. Der Gang zur Arbeit wird für Eltern deutlich schwieriger. Besonders betroffen davon sind sozial Schwächere, die kaum finanziellen und beruflichen Manövrierraum haben. Aus diesem Grund sollen Kindergärten und Schulen für jene offen bleiben, die sie brauchen. Allerdings stiessen viele Eltern im Frühling auf passiven Widerstand und moralischen Druck seitens der Schulen, als sie diesen Anspruch einforderten.
Die Spitäler fürchten, dass ihre angespannte Personalsituation durch die Schulschliessungen noch verschärft wird. Mediziner berichten von dramatischen Zuständen auf den Covid-19-Stationen, die kaum mehr mit dem Ansturm zurechtkommen. Am Sonntag lagen 3425 Corona-Patienten in Spitälern, 581 von ihnen auf Intensivstationen. Im Bundesland Kärnten etwa sind mehr als 80 Prozent der Betten belegt. Eine Triage, also die Auswahl der Patienten, die noch behandelt werden können, steht laut Gesundheitsexperten kurz bevor, wenn die Infektionen nicht reduziert werden.
Zwar verläuft der Grossteil der Infektionen glimpflich. Aber die Zahlen sind so hoch, dass selbst der geschätzte Anteil von einem Prozent, der intensivmedizinisch behandelt werden muss, eine grosse Belastung darstellt. Erstmals führte die Pandemie in Österreich deshalb Ende Oktober zu einer Übersterblichkeit: Die Todesfälle lagen um ein Viertel höher als der langjährige Schnitt. Ein Drittel der bisher 1629 Corona-Toten verstarb in den letzten zwei Wochen.
Trotzdem ist unklar, ob der erneute Lockdown so diszipliniert befolgt wird wie jener im Frühling. Eine jüngst durchgeführte Gallup-Umfrage zeigt ein widersprüchliches Bild: So finden zwar über 80 Prozent, die Pandemie sei ausser Kontrolle, aber auch fast 40 Prozent, die Gefahr, die von ihr ausgehe, werde übertrieben. Impfen lassen wollen sich weniger als die Hälfte.
All dies deutet auf eine erhebliche Skepsis gegenüber der Regierungspolitik hin, an der diese selber nicht ganz unschuldig ist. So verkündete Kurz Ende Sommer verfrüht, er sehe «Licht am Ende des Tunnels», und die Streitereien innerhalb der Koalition trugen zur Verunsicherung bei. Auch der zu Beginn der zweiten Welle von der ÖVP vermittelte Eindruck, es seien primär die grossen Städte, die ein Problem hätten, trug in den inzwischen ebenfalls stark betroffenen ländlicheren Regionen zu einer gewissen Nonchalance bei.
Allerdings ist die Kritik an der Regierung auch etwas wohlfeil: Praktisch alle europäischen Staaten scheitern am Zielkonflikt, die Infektionen tief zu halten, wirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen und dabei noch eine kohärente Politik zu betreiben. In Österreich, das gerade zusätzlich mit den Folgen eines Terroranschlags kämpft, ist dies nicht anders. Wie paradox zudem die Reaktionen der österreichischen Bevölkerung sind, zeigte sich am Samstag, als die Menschen vor zahlreichen Geschäften Schlange standen, um sich vor dem Lockdown noch rasch mit vergünstigten Artikeln einzudecken.
Wohl nicht nur in Wien erhält der Beobachter den Eindruck, dass neben Verschwörungstheoretikern auch viele grundsätzlich vernünftige Menschen beschlossen haben, die Pandemie zu ignorieren – schlicht deshalb, weil sie die Nase voll davon haben. Dies bedeutet auch, dass die offiziellen Informationen und Anweisungen immer weniger Menschen erreichen. Das ist eine konfliktträchtige Ausgangslage für den nun beginnenden Lockdown.