Frankreich: Aurélie Trouvé lehrt Präsident Macron das Fürchten

A gauche!

Oliver Fahrni

Die linke Politikerin ­Aurélie Trouvé (42) ist blitzgescheit, mutig und schlagfertig. Sie weiss, wie eine neue Politik in Zeiten der Katastrophe aussehen muss. work sprach mit der Powerfrau.

AURÉLIE TROUVÉ: «Die Neoliberalen fürchten die Demokratie. Sie versuchen, die Mehrheit davon abzuhalten, wählen zu gehen. Damit halten sie sich noch an der Macht.» (Foto: Nicolas Pascon)

Mein Anruf erreicht sie auf dem Velo: Aurélie Trouvé ist wie immer auf Achse. Sie eilt an eine Wahlveranstaltung des neuen französischen Linksbündnisses Nupes («Neue ökologische und soziale Volksunion»). Die Nupes will in diesen Tagen mit einer Parlamentsmehrheit die Alleinherrschaft des neoliberalen Präsidenten Emmanuel Macron brechen.

Trouvé gehört zu den vielen starken Frauen, die dafür sorgten, dass aus der Linkspartei «Union populaire « (UP) um den früheren sozialistischen Minister Jean-Luc Mélenchon eine breit abgestützte Bewegung wurde, die nicht nur die linken Parteien und die Grünen versammelt, sondern auch Dutzende von sozialen Bewegungen und Persönlichkeiten.

Es war Trouvés Idee, dieser bunten Allianz ein internes Parlament zu geben als Gegengewicht zu den alten Politikprofis. Sie leitet es. Jetzt ist Macron panisch: Vor dem zweiten Wahlgang zum Parlament am 19. Juni liegt die Nupes Kopf an Kopf mit den Macronisten (siehe Artikel links). In Trouvés Wahlkreis in den armen Pariser Vororten hat die Kapitalismuskritikerin, Feministin und Radikaldemokratin Trouvé mit 53,3 Prozent der Stimmen stark vorgelegt.

work: Aurélie Trouvé, sind Sie gefährlich?
Aurélie Trouvé: (lacht) Das kommt darauf an, wen Sie fragen. Präsident Macron und seine Neoliberalen, die Krisengewinnler und die umweltzerstörenden Konzerne bekommen mit der Nupes tatsächlich ein Problem.

Wir fragen, weil der Präsident, seine Minister und die Medien heute in schrillen Tönen den Untergang Frankreichs und Europas beschwören, sollte Ihre Nupes eine Mehrheit gewinnen.
Die Rechte ist in Panik, und sie macht auf Panik. Ich nehme das als gutes Zeichen. Denn Macron wollte diese Wahl unter den Teppich kehren. Er und seine Leute verweigern jede öffentliche Debatte, und sie haben kein Programm vorgestellt. Dieser Demokratiestreik ist kalkuliert. Wer mag schon freiwillig die Klimakatastrophe und ein höheres Rentenalter wählen? Wer mag schon für die Demontage der öffentlichen Schulen und der Spitäler stimmen? Wer möchte Abstriche an den Sozialleistungen hinnehmen, wenn Macron den Aktionärinnen und Aktionären gleichzeitig 120 Mil­liarden aus unseren Steuergeldern schenkt? Die Mehrheit kann das nicht wollen.

Ohne Massen­bewegungen gibt es keine Veränderungen in der Gesellschaft.

Sie sagen: Macron wolle eine Mehrheit durch die Einschläferung der Demokratie gewinnen?
Genauso! Die Neoliberalen fürchten die Demokratie. Sie versuchen, die Mehrheit davon abzuhalten, wählen zu gehen. Damit halten sie sich noch an der Macht. Wenn ich dieser Tage in den Wohnblocks von Tür zu Tür gehe, muss ich oft erst erklären, dass gerade Parlamentswahlen stattfänden. Die Stimmenthaltung wird ein entscheidender Faktor sein. Doch täglich wird auch deutlicher: Durch die Gründung unseres Bündnisses Nupes haben wir Macrons Strategie durchkreuzt. Unser Ziel ist die Belebung der Demokratie, im Parlament, aber auch ausserhalb.

Diente dazu Ihr ungewöhnlich detailliertes 650-Punkte-Programm?
Wir sagen präzise, wohin wir wollen und wie das geschehen soll. Das hat Macron überrascht. Darum verbreitet er jetzt, in den letzten Wahlkampftagen, Angst und Panik. Die Menschen sollen sich vor der «roter Gefahr» fürchten. Also vor uns. Doch auf Plätzen und Märkten und überall, wo wir unsere Vorschläge mit den Menschen diskutieren, erfahren wir viel Zuspruch.

Was hören Sie da?
Meist sehr konkrete Dinge. Die steigenden Preise. Das schwierige Monatsende, das nun oft schon am Fünfzehnten des Monats eintritt. Wir hören auch von Ratten in Schulzimmern ohne Heizung. Dass Sozialhilfe gestrichen wird. Von der Hetze im Job. Vom Wegfall einer Buslinie. Von Drogenproblemen. Polizeiübergriffen. Wohnungsnot. Zu teurer Gesundheitsversorgung. Von fehlenden Perspektiven und Jobs für die Jungen. Der Schliessung einer Notfallklinik. Ich lebe im «9-3», wie das ärmste Departement Frankreichs in der Banlieue von Paris auch genannt wird. Hier nimmt man uns in die Pflicht, die Dinge zu ändern. Die Menschen wollen mitreden. Höchste Zeit, sagen sie, dass Macron eine starke Opposition bekommt.

Nupes will die Preiserhöhungen blockieren, den Mindestlohn auf 1500 Euro erhöhen, viele Milliarden in den ökologischen Umbau investieren, in Spitäler und ­Bildung und einiges mehr. Doch Macrons Think-Tank ­Terra Nova wirft Ihnen vor, Ihr Programm sei nicht seriös.
Ein alter Trick. Wir haben Terra Nova gesagt: Kein Problem, diskutieren wir öffentlich Punkt um Punkt, genau beziffert, transparent. Doch die haben sich entzogen. Warum wohl? Unser Programm wurde von mehreren Dutzend Ökonominnen und Ökonomen entworfen. Darunter waren auch Leute aus dem Finanzministerium und von der Zentralbank.

Was war dabei Ihre persönliche Rolle?
Ich habe die Arbeiten koordiniert. Wir haben konservativ gerechnet, mit den offiziellen Zahlen. Das Ergebnis haben wir vor Wochen veröffentlicht und seither mit der Fachwelt diskutiert. Welche andere Partei hat dies getan? Unterm Strich ergeben sich auf fünf Jahre Investitionen von 250 Milliarden Euro und Mehreinnahmen von 267 Milliarden. Unser Plan rechnet sich. Und am 9. Juni kam der Hammerschlag: Mehr als 300 namhafte Ökonomen, darunter Köpfe wie der renommierte Ungleichheitsforscher Thomas Piketty, haben unser Programm öffentlich unterstützt. Diese «Versammlung ökonomischer Kompetenz» wird die Nupes weiter kritisch begleiten. Wir sind bereit.

Bereit, morgen zu regieren?
Wir haben fünf Jahre hart gearbeitet, jetzt kann es losgehen! Die ersten Erlasse und Gesetzesentwürfe sind geschrieben.

Dafür müsste Nupes erst einmal ­stärkste Kraft im Parlament ­werden. Halten Sie das beim aktuellen Wahl­system für realistisch?
Das wird sich am Abend des 19. Juni weisen. Noch vor zwei Monaten hat es kein Mensch für möglich gehalten, dass sich die UP um Jean-Luc Mélenchon mit anderen linken Parteien und den Grünen zu dieser mächtigen Allianz verbünden könnte.

Eben noch schossen Sozialdemokraten und Grüne auf Mélenchon. Und jetzt folgen sie ihm. Können Sie das Rätsel dieser Versöhnung entschlüsseln?
Ein solches Bündnis gab es seit 90 Jahren nicht mehr. Warum heute? Sagen wir es so: Wir haben kollektiv verstanden, dass wir im Angesicht einer angekündigten Kata­strophe handeln. Die Menschheit steht an einer Weggabelung. Rechts fahren uns die Neoliberalen ökologisch und sozial mit Caracho an die Wand. Das wissen und spüren alle. Der neoliberale Kapitalismus produziert keine Lösungen, sondern nur Krisen und Hoffnungslosigkeit. Also ziehen wir es vor, in die andere Richtung abzubiegen. Zum Beispiel wollen wir die Wirtschaft auf die Bedürfnisse des Menschen ausrichten statt auf maximalen Ertrag für das Kapital. Wir wollen auch sofort radikale, aber pragmatische Schritte für eine ökologische Planung einleiten.

Sie sind eine profilierte Kapitalismus­kritikerin. SP-Chef Olivier Faure ­weniger. Und der Grünen-Chef Julien Bayou glaubt …
… pardon, aber für solche Diskussionen ist einfach keine Zeit mehr. Der soziale, ökologische und demokratische Notstand hat sich derart verschärft, dass wir nicht mehr warten können. Darin sind wir uns einig. Haben Sie die erleichterten Gesichter von Faure, Bayou und all den anderen am Gründungsmeeting der Nupes beobachtet? Endlich wird wieder Politik gemacht. Endlich gehen wir die Dinge von der Wurzel her an, also radikal. Manche Dinge wie ein Preisstop sind mit einem Federstrich getan. Grosse Dinge wie die ökologische Planung müssen sorgfältig und demokratisch in der Gesellschaft ausgehandelt werden. Zum Beispiel in gemischten Bürgerkonventen: 1⁄3 aus der Politik, 1⁄3 aus den sozialen Bewegungen, 1⁄3 durchs Los bestimmt.

Zerfällt das Linksbündnis Nupes nach einer möglichen Wahlniederlage wieder?
Nupes ist mehr als eine Wahlkoalition, sie ist ein programmatisches Bündnis. In etwa 30 von 650 Programmpunkten streiten wir uns. Das machen wir im Nupes-Parlament aus. Seine Aufgabe ist es, eine kollektive Dynamik, eine politische Erzählung und eine neue politische Gesprächskultur zu erfinden. Bald werden ihm 500 Persönlichkeiten angehören, 250 aus der Politik, 250 aus der Zivilgesellschaft. Heute sind schon Gewerkschafter dabei, Bäuerinnen, Ökonomen, Philosophinnen, Vertreter und Vertreterinnen diverser sozialer Bewegungen, Wissenschafterinnen, Filmemacher usw.

Als Präsidentin des Nupes-Parlaments kommen Sie aus 20 Jahren Engagement in sozialen Bewegungen. Ist Ihnen die Rolle als Politikerin nicht suspekt?
Nein, denn diese Sphären gehören zusammen. Ohne Massenbewegungen gibt es keine gesellschaftlichen Veränderungen. Dort habe ich gelernt, dass Widerstand nicht genügt und aufopfernde Militanz ein Irrweg ist. Wir müssen immer schon ein kleines Stück neue Welt schaffen. Diese Bewegungen haben einige Erfolge erzielt, zum Beispiel die Gelben Westen oder die Frauenbewegungen. Die demokratische Verständigung und die Umsetzung brauchen aber ebenso politische Organisationen. Wir denken gerade das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Parteien neu. Die Bewegungen müssen politischer werden, die Linke muss sich in Bewegung setzen. Das Nupes-Parlament ist der gemeinsame Raum. Hier sollen die Bewegungen auch sagen können: Stop, da baut ihr gerade Mist.

Die Geschichte hat gerade die Gewerkschaften gelehrt, auf ihrer politischen Unabhängigkeit zu beharren.
Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen sind stark, wenn sie autonom agieren. Autonom, doch verbündet – denn gemeinsam sind sie mehr als die Summe ihrer Teile.

Aurélie Trouvé: Athletin und Ingenieurin

2021 hat Aurélie Trouvé, 42, Agraringenieurin und Ökonomiedozentin, ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Frauenrechte in einem Buch erzählt («Le bloc arc-en-ciel»). Über zwei Jahrzehnte hat die frühere Spitzenathletin (Mittelstrecken) und Mutter zweier Kinder kaum einen Kampf ausgelassen. Unter anderem war sie lange Präsidentin der globalisierungskritischen Nichtregierungsorganisation Attac.

BLACK PANTHER. Daraus hat sie eine «radikale und inklusive» politische Strategie für die Linke gezogen («das 21. Jahrhundert beginnt jetzt»). Den Titel hat sie dem Black Panther Fred Hampton abgeschaut, der 1969 in Chicago die Rainbow Coalition gegründet hatte. Heute liest sich Trouvés Buch wie eine Anleitung dafür, was in den vergangenen Wochen in Frankreich geschehen ist.


Weitere Artikel zum Thema: