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»Ein horizontaler Protest hat keinen Kopf«

Wer initiiert Antikriegsaktionen in Russland – und wie? Newsletter des oppositionellen Studierendenmagazins DOXA, 16. März 2022

Von DOXA

Ein junger Mann hält ein Schild hoch auf dem »*** ****« steht, zwei Polizisten führen ihn ab.
»нет войне« (Nein zum Krieg) darf man nicht mehr schreiben, »*** ****« auch nicht. Festnahme in der Twerskaja-Straße in Moskau am 13. März 2022. Foto: Avtozak LIVE , CC BY 4.0

Seit dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine am 24. Februar haben sich in ganz Russland Dutzende von Antikriegs-Basisinitiativen gebildet. Wir berichten über Aktivist*innen, Designer*innen, Künstler*innen, Musiker*innen und Student*innen, die in einer Zeit, in der der Slogan »Nein zum Krieg« mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden kann, nach neuen Formen des Aktivismus gegen den Krieg suchen.

Seit dem Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine am 24. Februar finden in vielen russischen Städten Antikriegsproteste statt. Diese werden von gewaltsamen Verhaftungen begleitet, nach denen die Demonstrant*innen Geldstrafen erhalten und einige von der Universität verwiesen werden.

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Eine der ersten politischen Vereinigungen, die eine Antikriegserklärung herausgab, war die »Sozialistische Alternative«, die ihre Anhänger*innen dazu aufrief, »eine Basisbewegung gegen den Krieg aufzubauen«, also Mahnwachen durchzuführen, Flugblätter zu verteilen, zu agitieren und Streiks zu organisieren. Die Sozialistische Alternative hat auch die Proteste am 6. März 2022 in 69 russischen Städten mitorganisiert. (Die Bürgerrechtsorganisation) OVD-Info schätzt, dass an diesem Tag in ganz Russland fast 5.000 Demonstrant*innen festgenommen wurden.

Die demokratische Jugendbewegung Vesna (Frühling) rief ebenfalls zu Straßenprotesten auf. »Als der Krieg begann, wurde uns klar, dass wir nicht am Rande stehenbleiben können, und wir beschlossen zu handeln. Wir haben schnell einen Kampagnenplan gegen den Krieg entwickelt: von offenen Briefen bis zu Straßenaktionen«, sagt Ivan Smirnov (Name geändert), einer der Organisator*innen der Bewegung.

Stille Mahnwachen und Krankschreibung gegen den Krieg

Längst nicht alle Aktivist*innen halten Straßenaktionen für wirksam. Die anonyme Bewegung »Krankschreibung gegen den Krieg« ist der Meinung, dass »neue Wege des Protestes gegen einen Krieg, den niemand will« gesucht werden sollten. Sie fordern die Beschäftigten staatlicher und privater Unternehmen auf, sich krankschreiben zu lassen und der Arbeit fernzubleiben, um die Kriegswirtschaft zu untergraben: »Stellt euch einen Morgen vor, an dem der Straßenbahnfahrer, der die Arbeiter*innen zu den Rüstungsbetrieben fährt, nicht zur Arbeit kommen kann. Die Lehrerin kommt nicht, und das Kind des Fabrikarbeiters bleibt zu Hause. Vielleicht ist aber auch der Mitarbeiter der Rüstungsindustrie selbst abwesend. Die Vertreter*innen der Bewegung geben zu, dass diese Form des Protests nicht so spektakulär ist wie Straßenaktionen. Aber sie sind überzeugt, dass die Kriegsgegner*innen »nicht an den Anschein, sondern an die Tat denken sollten«. Und dann hält uns niemand mehr davon ab, stolze Selfies von zu Hause zu posten, wie im März 2020. »Retten wir die Welt, indem wir zu Hause bleiben!«

»Stille Mahnwachen« sind eine weitere Alternative zu Straßenprotesten. Diese Aktion wurde 2016 von der Dichterin Darya Serenko ins Leben gerufen, die in der Moskauer Metro mit Plakaten gegen verschiedene Formen von Diskriminierung, politischer Unterdrückung, häuslicher Gewalt und Geschlechterstereotypen unterwegs war. Die Teilnehmer*innen der »stillen Mahnwache« befestigen inzwischen Antikriegsaufkleber, Buttons und grüne Bänder an ihrer Kleidung, ihren Rucksäcken und Taschen, die zu einem der Symbole des Protests geworden sind.

Die Verteilung von Antikriegssymbolen wird manchmal als »Guerilla-Protest« bezeichnet. Auf diese Weise brachte die Künstler*innenvereinigung Kruzhok ihre Ablehnung der Maßnahmen der russischen Behörden zum Ausdruck, indem sie am 6. März eine Reihe von pazifistischen T-Shirts und Plakaten herausgab. »Aufgrund der jüngsten Ereignisse haben wir beschlossen, keine Partys und Präsentationen neuer Kollektionen zu veranstalten, sondern Künstler*innen und Illustrator*innen, mit denen wir zusammenarbeiten, zu bitten, das Thema Frieden und die Antikriegsagenda visuell zum Ausdruck zu bringen. Wir hatten etwa 120 weiße T-Shirts auf Lager. Wir druckten sie aus und verteilten sie zusammen mit Plakaten, eins nach dem anderen. Wir haben um 12 Uhr mittags geöffnet, und um 16 Uhr war nichts mehr da«, sagt der Gründer des Vereins, Stas Falkov. Stas sagt, dass es unter den derzeitigen Bedingungen »für unser Team und unsere Kolleg*innen physisch gefährlich geworden ist, solche Aktionen durchzuführen«, und hofft, dass sich der Antikriegsbewegung weitere Gruppen anschließen: »Wir haben uns Gehör verschafft. Es bleibt nur noch abzuwarten, bis auch die ›Arbeiterklasse‹ aus dem Winterschlaf erwacht und beginnt, eine eigene Position zu vertreten. Man kann einfach nicht mit ansehen, wie Student*innen der Geisteswissenschaftlichen Universitäten auf die Straße gehen (um zu protestieren) und von der Bereitschaftspolizei zusammengeschlagen werden«, fährt er fort.

Wir haben uns Gehör verschafft. Bleibt nur noch abzuwarten, bis auch die Arbeiterklasse aus dem Winterschlaf erwacht und beginnt, eine eigene Position zu vertreten.

Stas Falkov

Am 2. März kam die Polizei in das Moskauer Büro von Partisan Press, das Plakate mit den Slogans »Nein zum Krieg« und »Jeder braucht Frieden« druckte und kostenlos verteilte, und nahm zwei Mitarbeiter*innen fest. »Es gab keinen Grund für eine Verhaftung, aber es wäre sinnlos gewesen, sich zu wehren«, sagt der Eigentümer von Partisan Press, Oleg Mikhailov (Name geändert). Auf der Polizeiwache wurden beide Mitarbeiter*innen gemäß Artikel 28.2 Absatz 2 des Gesetzes über »Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Aufmärsche und Mahnwachen« angeklagt. Zur gleichen Zeit erschienen anonyme Drohungen gegen Partisan Press in Telegram-Kanälen. »Es sah sehr formelhaft aus – derselbe Text in mehreren Gruppen, aber ich habe einen Sicherheitsdienst gebeten, vorsichtshalber ein Auge auf die Videoüberwachung zu werfen«, kommentiert Oleg.

Der Designer Fedor Mukhin (Name geändert) wählte einen anderen Weg, um Antikriegsgrafiken zu verbreiten, und begann, sie auf seinem Telegram-Kanal »Grafische Intervention« zu veröffentlichen. »Normalerweise verursachen schlimme Ereignisse in der Welt bei mir Ohnmacht und Angst. Doch am 24. Februar war ich nicht von Angst und Ohnmacht erfüllt, sondern von der Entschlossenheit, alles in meiner Macht Stehende zu tun, den Menschen in der Ukraine zu helfen und das Leichentuch der Propaganda in unserem Land zumindest ein wenig zu lüften. Ich bin Designer und was ich am besten kann ist Bilder zu machen – also habe ich beschlossen, meine Fähigkeiten für etwas Nützliches einzusetzen«, sagt Mukhin. Als der Kanal populär wurde, begannen auch andere Designer*innen und Künstler*innen, ihre Werke an Fedor zu schicken. Das Ergebnis ist eine beeindruckende Sammlung von mehr als hundert Plakaten und Aufklebern, von denen einige trotz aller Bemühungen der Ordnungsdienste immer noch auf den Straßen Moskaus zu sehen sind.

Künstler*innenproteste

Auch russische Künstler*innen wurden von den Antikriegsprotesten nicht ausgespart. Die anonyme Künstler*innengruppe Nevoina aus Samara veranstaltete eine Aktion mit dem Titel »Ein Wort an die Toten«. Die Aktivist*innen zogen sich schwarze Säcke an und legten auf dem Eis der Wolga eine Linie aus ihren Körpern aus, um die Opfer des Krieges zu symbolisieren.

Die Künstlerin und Aktivistin Katrin Nenasheva veranstaltete zusammen mit Maria Nelyubova die Ausstellung {NICHT FRIEDEN} und organisierte ein »Friedensdinner«, bei dem jeder seine Erfahrungen austauschen und über aktuelle Ereignisse diskutieren konnte. Die Veranstaltung sollte an den Standorten des Open-Space-Projekts in Moskau und St. Petersburg stattfinden, wurde jedoch von der Polizei gestört, die Katrin Nenasheva während des Treffens in Moskau festnahm. »Ich sitze in einem Raum mit den Bullen. Wahrscheinlich ist dies meine letzte Nachricht von der Wache, mein Telefon ist kaputt, sie wollen mich über Nacht hier behalten. Sie klagen mich nach Artikel 19.3 ›Ungehorsam gegenüber der Polizei‹ an, obwohl ich sofort meinen Pass abgegeben habe und direkt zum Wagen mitgekommen bin. Ich erinnere daran, dass ich weder an einer Mahnwache noch an der heutigen Antikriegskundgebung teilgenommen habe. Ich habe einfach ein ›Friedensdinner‹ organisiert, bei dem die Leute Unterstützung bekommen und darüber reden konnten, wie sie mit dem Stress umgehen können«, schrieb Katrin nach ihrer Verhaftung auf ihrer Facebookseite. Am 4. März verurteilte das Gericht die Künstlerin zu 15 Tagen Ordnungshaft.

Ein horizontaler Protest hat keinen Kopf, eine verhaftete Aktivistin wird durch Dutzende andere ersetzt.

Maria Blinova

Russische Musiker*innen und Klangkünstler*innen haben eine Kompilation »FRIEDEN – ein Klangdenkmal von Künstler*innen aus aller Welt für die Existenz dieser Welt« veröffentlicht. »Diese Zusammenstellung soll den Menschen helfen, den inneren Frieden nicht zu verlieren und sich mit ihren Ängsten nicht allein zu fühlen. Diese Woche veröffentlichen wir den zweiten Teil und bereiten bereits den dritten vor, so dass man unser Projekt fast als Almanach bezeichnen könnte«, sagt Eva Richer, eine der Verfasser*innen der Sammlung. Die erste Hälfte besteht aus 14 Kompositionen: »Einige haben nur ihr Entsetzen dargelegt, andere haben die Anspannung im meditativen Ambiente aufgenommen. Wir versuchen, nicht gegen das Gesetz zu verstoßen und äußern uns vorsichtig, wir überprüfen die Texte und hören uns die Werke genau an. Ich hasse Selbstzensur, aber in der heutigen Realität kommen wir nicht ohne sie aus«, bemerkt Eva. (»Die Vertreiber haben die Kompilation inzwischen von allen Plattformen entfernt und sich geweigert, eine neue zu veröffentlichen, ohne jegliche Erklärung«, berichtet Eva. FRIEDEN ist jetzt nur noch auf der Bandcamp-Plattform erhältlich.)

Feministischer Widerstand gegen den Krieg

Feministische Aktivistinnen haben einen eigenen »Feministischen Widerstand gegen den Krieg« ins Leben gerufen. »Antimilitarismus ist ein integraler Bestandteil des Feminismus, denn der Feminismus wendet sich gegen alle Formen von Gewalt, einschließlich militärischer Aggression«, sagt Maria Blinova (Name geändert), eine der Gründerinnen der Bewegung. Die Teilnehmerinnen des Widerstands führen eine Vielzahl von Protestaktionen durch, von »Briefen der Verzweiflung«, die viralen WhatsApp-Nachrichten ähneln, bis hin zum Niederlegen von Blumen an Denkmälern des Zweiten Weltkriegs am Internationalen Frauentag. »Feministische Organisationen haben den Vorteil, dass die Aktivistinnen schon vor dem Krieg starke horizontale Verbindungen zwischen den Regionen und Kontinenten aufgebaut haben und über umfangreiche Erfahrungen bei der Durchführung von Vernetzungsaktionen zur gegenseitigen Hilfe und zum Protest verfügen«, fährt Maria fort. »Die Schwäche der russischen Sicherheitsdienste ist, dass sie ›vertikal‹ denken und bei jedem Protest nach einem ›Kopf‹ suchen, den sie abschlagen können. Horizontale Proteste haben aber keinen ›Kopf‹, eine verhaftete Aktivistin wird durch Dutzende andere ersetzt.«

Eine eigene Antikriegsbewegung wurde von den Studierenden der russischen Hochschulen ins Leben gerufen. Sie rufen dazu auf, »ein entschiedenes NEIN zum Krieg zu sagen«, da sie der Meinung sind, dass »das Schweigen, geschweige denn die Unterstützung des Geschehens durch die Russische Akademie nicht nur zur Isolierung und Degradierung der russischen Wissenschaft führt, sondern alles zerstört, dem sie, die Studierenden, ihr Leben widmen«. Die Aktivist:innen schlagen vor, mit Antikriegsaufschriften auf Kleidung, Taschen und medizinischen Masken in die Bildungseinrichtungen zu kommen.

Eine weitere Form des Aktivismus gegen den Krieg ist die Unterstützung derjenigen, die von der russischen Invasion in der Ukraine betroffen sind. Aktivist*innen, Künstler*innen und Musiker*innen im georgischen Exil haben eine Telegramgruppe eingerichtet, um denjenigen zu helfen, »die die Ukraine gerade verlassen haben oder die sich in der Ukraine befinden«. Der Chat wurde am 24. Februar ins Leben gerufen und hatte innerhalb von zwei Wochen mehr als 94.000 Follower. »Ich hatte so etwas noch nie gemacht, ich musste sofort und, wie man so schön sagt, ›auf den Knien‹ handeln. Die ersten Tage habe ich von meinem Telefon aus gearbeitet. Dann hat mir mein Freund einen Laptop geschenkt«, sagt Projektkoordinatorin Yulia Lyutikova. Die Chatroom-Teilnehmer*innen befassen sich mit einer Vielzahl von Themen: Sie suchen nach Transportmöglichkeiten, Unterkünften und Psycholog*innen für Geflüchtete und helfen bei der Schaffung von Evakuierungsrouten. »Wir halten Antikriegsaktivismus nicht nur für möglich, sondern für notwendig«, meint Yulia, »und es ist das Einzige, was wir jetzt tun können.«

DOXA

ist ein oppositionelles russisches Studierendenmagazin. Den Newsletter des Studierendenmagazins kann hier abonniert werden. Spenden für DOXA unter https://www.patreon.com/doxajournal.

Im Original kann der Newsletter hier nachgelesen werden. Übersetzung: Christoph Wälz